Die heutige Zeit erscheint irgendwie „verrückt“, und das im ursprünglichen Sinne des Wortes. Beinahe nichts mehr ist über einen längeren Zeitraum von verlässlicher Dauer, immer häufiger verändern sich die wirtschaftlichen, politischen oder gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die verschiedenen Geschäftsmodelle der Unternehmen. Das allseits angepriesene Allheilmittel gegen die mit diesen Veränderungen verbundenen Unsicherheiten und Risiken lautet stets und unisono „Innovation“.
So werden in den letzten Jahren auf Konferenzen, bei Seminaren (heute: Webinare) und in Manager-Magazinen zahllose „Anleitungen“ und Tools propagiert und ebenso viele Ratschläge gegeben, wie man die erforderliche „Innovationsfähigkeit“ erlangt. Das Ganze wurde so oft wiederholt, dass mittlerweile nahezu niemand mehr zu widersprechen wagt, um nicht als überholt abgestempelt zu werden.
Immer neue disruptive Geschäftsmodelle entzaubern die etablierten Unternehmen, der gesellschaftliche und demografische Wandel, die Generation Z, künstliche Intelligenzen – die Liste der zuweilen radikalen Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft ließe sich nahezu endlos fortsetzen. Es ist keine Frage, dass die Unternehmen sich diesem Wandel beherzt stellen müssen.
Die Begriffe „Innovation“ und „Innovationsfähigkeit“ werden in diesem Zusammenhang beinahe schon wie Zauberformeln gehandelt, da ein Unternehmen angeblich nur mit ihnen eine Chance hat, in dem sich zunehmend beschleunigenden Veränderungsstrudel zu überleben. Darunter zu verstehen ist die ständige Bereitschaft und die Fähigkeit, immer wieder Neues zu entwickeln und sich selbst, wenn notwendig, zu verändern und vernetzt und zugleich hochagil zu sein.
Es leuchtet ein, dass der Wettbewerb veränderten Gesetzmäßigkeiten unterliegt und neue technologische Entwicklungen und ein anderes Kundenverhalten rasend schnell dafür sorgen können, dass ein bis dahin erfolgreiches Geschäft vom Markt gefegt wird. Das dauernde Erneuern und das Meistern ständig neuer Herausforderungen sind jedoch müßig, wenn nicht ausreichend Denkarbeit in die Überlegung investiert wird, wo die Veränderungen genau hinführen sollen. Das geht natürlich über die reine Unternehmensstrategie hinaus und bedeutet ein Umschalten vom angemessenen Reagieren auf eintretende Veränderungen zu einem aktiven und bewussten (Mit-)Gestalten der Zukunft.
„Die Aufgabe des Innovativen ist Systemstörung, nicht Systemzerstörung. Die Störung verfolgt den Zweck, auf (…) Defizite (…) hinzuweisen. Auf überholte Codes, auf Regeln, die mit der Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmen.“
Wolf Lotter: Innovation. Streitschrift für ein barrierefreies Denken
Innovation bedeutet im Grunde, das, was man tut und wie man es tut, permanent infrage zu stellen, zu verbessern, den neuen Gegebenheiten möglichst rasch anzupassen oder – der Jackpot der Innovationen – etwas gänzlich Neues hervorzubringen, das ein Bedürfnis bzw. eine Nachfrage entstehen lässt, die es so vorher noch nicht gab.
Eine ganz wesentliche Voraussetzung dieser kreativen Kraft ist das Bewusstsein aller in der Organisation, welchen gesellschaftlichen Mehrwert das eigene Tun hervorbringen soll, was der Sinn, neudeutsch: Purpose, bzw. die Identität des Unternehmens ist. Wofür stehen wir, was sind unsere Werte, und welche Werte bringen wir gemeinsam hervor? Was ist das übergeordnete Ziel, unser Ankerpunkt, um den herum alles neu gestaltet werden soll? Was das betrifft, haben viele Organisationen keine glaubwürdige Antwort parat, die über die üblichen Marketingphrasen hinausgeht.
Da wird es schnell schwierig, zumal man die gewohnte Zahlenebene von KPIs, Renditen usw. verlassen muss und das eigene Unternehmen aus der Sicht und mit den Kriterien des Individuums beschreiben soll. „Erfolg“ wird hierbei nicht mehr ausschließlich durch finanzorientierte Messkriterien definiert, sondern immer stärker durch nichtmonetäre Faktoren bestimmt – gegenüber den Kunden und Lieferanten wie auch den Mitarbeitern.
Selbst bei Google, Facebook und Amazon gab es bereits Widerstand seitens der Belegschaft, als ihrer Ansicht nach rote Linien überschritten wurden. Die neue Mitarbeitergeneration hat häufig bereits einen erheblichen Einfluss darauf, welche Themen auf der Tagesordnung stehen, was das Unternehmen darf und was es tunlichst lassen sollte. Das ist eine für ein klassisches, hierarchisch geprägtes Unternehmen ungewohnte Entwicklung, jedoch kann sie, wenn es diese Kreativ- und Motivationsquellen intelligent „anzapft“ und sich organisatorisch darauf einlässt und einstellt, genau zu jener Innovationskraft werden, die Zukunftsfähigkeit und Konstanz verspricht.
Ihr Roland Schulze