Hohe Frachtpreise als „Bumerang“ – „Lieferketten werden sich nachhaltig verändern“

Wegen anhaltender Nachschubprobleme beabsichtigen im zweiten Pandemiejahr immer mehr Unternehmen, China den Rücken zu kehren. „Astronomische Frachtraten“ machen die Waren aus den dortigen Produktionsstätten zu teuer, sagt Logistikexperte Alexander Nowroth von der Lebenswerk Consulting Group ntv.de. Für manche Unternehmen rechne es sich wieder, die Produktion zurück nach Europa zu holen – auch aus einem anderen Grund. „So günstig wie möglich, egal wo produzieren und es dann importieren, das wird bald überholt sein“, sagt Nowroth.

ntv.de: Kurz vor Weihnachten häufen sich wieder Meldungen aus dem Einzelhandel, dass manche Regale wegen Lieferproblemen leer bleiben werden. Der Warennachschub aus Fernost stockt im zweiten Pandemiejahr immer noch. Der „perfekte Stum“ im Welthandel, wie es einige nennen, will einfach nicht abflauen. Woran liegt das?

Alexander Nowroth: Bei einem perfekten Sturm gibt es immer mehrere Kräfte, die zusammenwirken. Da geht nicht eine Sache schief, sondern mehrere. Ich helfe Kunden bei verschiedenen strategischen Themen und sehe, was da gerade so passiert. Die Frachtraten haben eine astronomische Höhe erreicht. Aktuell liegen die Preise bei 16.000 Dollar je 40-Fuß-Container. Derselbe Container kostete vor etwas weniger als 18 Monaten um die 2000 Dollar. Das sind Preise, die Reedereien sich nie zu erträumen gewagt haben. Das ist gut für diese Branche. Aber als Unternehmer und Importeur muss man sich das erstmal leisten können.

Ist denn ein Ende in Sicht? Werden die Preise, wenn die Pandemie unter Kontrolle ist, wieder sinken?

Im kommenden Jahr werden die Containerraten auf jeden Fall auf einem sehr hohen Niveau bleiben. Drei Gründe sprechen dafür: Wegen der Suez-Kanal-Blockade der Ever Given sowie coronabedingten Hafenschließungen in China herrschen erstens immer noch gewaltige Engpässe. Infolge der weltweiten Einschränkungen für Konsumenten ist zweitens die Nachfrage für Transport nach wie vor hoch. Der dritte Grund, der für anhaltend hohe Frachtraten spricht, ist, dass die Reedereien ihr Preismodell aus der Vor-Corona-Zeit auf den Kopf gestellt haben. Aus Angst vor kollabierenden Preisen, von denen sie in absehbarer Zeit fest ausgehen müssen – nämlich dann, wenn die Coronakrise vorbei ist -, locken sie Kunden in vergleichsweise günstige, langfristige Verträge. Sie binden Kunden für die kommenden Jahren an sich und bestimmen damit bis zu einem gewissen Grad auch die Preise in der Zukunft.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Stellen Sie sich vor, Sie wollen 3000 Standard-20-Fuß-Container pro Jahr aus China nach Deutschland versenden. Schließen Sie einen Vertrag über ein Jahr ab, kostet Sie ein Container 14.000 oder 15.000 Dollar. Die Zwei- oder Dreijahresrate ist mit 6000 oder 7000 Dollar deutlich günstiger. Weil die Preise dann immer noch drei- bis vierfach höher liegen als vor Corona, ist es für Reedereien immer noch ein sehr gutes Geschäft. Die Reedereien verhindern damit einen schnellen Preisabsturz. Interessant ist, dass das Tarifmodell bis vor 18 Monaten umgekehrt war. Das zeigt, was sie zu erreichen versuchen.

Die Reedereien betreiben also Vorsorge für die Zeit nach Corona, sie verhindern, dass die Preise zu schnell wieder sinken?

Richtig. Die Preise müssen früher oder später auf diesem hohen Niveau kollabieren. Hintergrund sind zwei Faktoren: Zum einen gelten ab 2023 strengere Umweltstandards der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation IMO. Zum anderen kommen durch Stapelläufe vieler neuer Schiffe rund vier Millionen TEU, das sind 20-Fuß-Standardcontainer, zusätzlich auf den Markt. Das entspricht etwa 20 Prozent der globalen Flotte, die momentan unterwegs ist. Selbst, wenn ein paar Schiffe ausgemustert werden, wird das Angebot an freier Stellplatzfläche auf Containerschiffen voraussichtlich weltweit größer sein als die Nachfrage. Gleichzeitig wird aber auch die Nachfrage schrumpfen. Das liegt daran, dass das Gros der Bevölkerung irgendwann durchgeimpft sein wird. Wenn die Menschen sich wieder mehr bewegen und mehr reisen, werden sie auch weniger materielle Dinge nachfragen. Und damit auch weniger Sachen aus China einkaufen. Das ist der Augenblick, in dem die Frachtraten dann sehr schnell fallen dürften.

Welche Schlussfolgerungen ziehen Importeure daraus?

Es gibt immer mehr Firmen, die inzwischen sagen, dass Waren in China zu produzieren und nach Europa zu verschiffen, schlicht zu teuer ist, weil der Containerpreis den Warenwert übersteigt. Und wir reden hier von teilweise 70 bis 80 Kubikmeter, die in einen Container reinpassen. Makroökonomisch ist ein Punkt erreicht, wo sogar ganze Industrien überlegen, ob das Versenden quer über den Globus noch Sinn ergibt – übrigens auch aus ökologischen Gesichtspunkten. Ein Geschäftsmodell, das darauf beruht, dass ich irgendwo billig produzieren kann, beinhaltet auch, dass ich die Transportkosten abbilden kann. Einen Importeur wie MediaMarkt, der 500.000 Euro oder mehr an Wert in einem Container hat, interessiert das nicht. Für den macht das ein paar Euro Cent auf einer teuren Produktebene aus. Aber jemand, der Sicherheitsequipment oder Handschuhe importiert, für den liegt der Einkaufspreis pro Handschuh dann plötzlich nicht mehr bei beispielsweise 20, sondern 35 Cent, was schnell zweistelligen Prozentpunkten des Warenwerts entspricht. Das macht sich in der Bilanz bemerkbar.

Das hört sich so an, als könnte das Konsequenzen für den Produktionsstandort China haben.

Es gibt zwei Trends: Entweder die Firmen sagen, sie gehen nach Indien oder Bangladesch. Da ist es heute zwar auch schon teurer, aber nicht so extrem teuer wie Fracht aus China zu importieren. Oder sie sagen, sie holen die Produktion gleich nach Europa und sie schauen, ob sie nicht durch die viel kürzeren Laufzeiten Inventar reduzieren können. Dann müssen sie nicht monatelange auf Produkte warten und am Ende sparen sie möglicherweise auch noch Geld. Das müssen Unternehmen jetzt gegenrechnen, genau das tun sie.

Haben Sie schon Kunden, die sich neue Produktionsstätten außerhalb Chinas suchen?

Ein Kunde mit immerhin 300 bis 400 Millionen Euro Umsatz überlegt gerade, ob er einen Teil seiner 3000 Container reduzieren sollte, indem er in Spanien oder Portugal produzieren lässt. Die Ware könnte er dann per Lkw oder kleinem Schiff nach England oder Irland transportieren lassen. Vor allem in Industrien mit geringem Warenwert – sagen wir bei Importeuren von Kacheln oder Stoffen – kann es sehr schnell passieren, dass sich das Geschäft wegen der hohen Transportkosten nicht mehr lohnt. Dadurch, dass Unternehmen die Produktion näher ranholen an die Firmenzentrale, können sie zusätzlich auch noch ihre CO2-Bilanz aufbessern, denn der Seeweg fließt da ja mit ein. Das ist ein weiterer Vorteil für sie.

Werden unsere Lieferketten jemals wieder die alten sein, oder wird Corona zum Gamechanger für die Branche?

Die Lieferketten werden sich nachhaltig verändern. Das gilt jedoch für einige Branchen mehr als für andere. Für Unternehmen mit niedrigem Produktwert, die teils seit Jahrzehnten in China produzieren, wird das vor allem zutreffen. Das hängt auch damit zusammen, dass sie nicht nur unter den hohen Containerpreisen, sondern auch unter den drei- bis viermal höheren Rohstoffpreisen leiden. Gerade wird ziemlich viel auf den Kopf gestellt. Das kann auch dazu führen, dass wir wieder die heimische Produktion hochziehen.

Das bedeutet, dass Reedereien sich mit ihrer Preispolitik möglicherweise selbst abschaffen?

So weit würde ich nicht gehen, aber die konstant hohen Preise können zum Bumerang für sie werden. Das muss nicht so sein, kann aber passieren. Um aber auch mal eine Lanze für sie zu brechen: Eine Reederei am Laufen zu halten, ist noch teurer als eine Airline zu betreiben. Reedereien haben jahrelang enorm geblutet. Sie haben Milliardenverluste eingefahren, weil sie zu Preisen gefahren sind, die weit unter dem lagen, was sie hätten verlangen müssen. Aus ihrer Sicht ist es deshalb die Gunst der Stunde. Rolf Habben Jansen, der Chef von Hapag Lloyd gehört allerdings zu denjenigen, die klar warnen, dass das Preislevel nicht gut ist, weil sie sich unattraktiv für Kunden machen. Am Ende muss man abwarten, welche Auswirkungen das haben wird.

Wagen Sie eine Schätzung, um wie viel das Niveau der Seefrachtraten einbrechen wird?

Das ist schwer zu sagen, weil sie von mehreren Faktoren bestimmt werden. Wenn man sich die historischen Schwankungen und die Sondereffekte durch Corona anschaut, denke ich aber, dass der Containerfrachtmarkt mittelfristig mindestens um die Hälfte, wenn nicht sogar in einigen Fahrgebieten, zum Beispiel China, um 70 Prozent einbrechen wird. Ich gehe davon aus, dass das Ratenlevel langfristig nicht mehr unter das Vor-Corona-Niveau fallen, sondern darüber liegen wird.

Werden die Produktionsstätten in Fernost mit deutlich niedrigeren Frachtraten nicht doch wieder interessant für Unternehmen und Importeure, und alles wäre dann wieder beim Alten?

Das mag zunächst schlüssig klingen. Jedoch spielt hier noch ein anderer Punkt eine sehr wichtige Rolle: das wachsende Bewusstsein der Wirtschaft für die CO2-Problematik. Wenn ein Produzent einen Teil der Produktion nach Europa zurückholt, hat er nicht nur deutlich mehr Kontrolle über Lieferzeiten und -kosten, sondern er kann dank moderner Produktionsstätten deutlich mehr CO2 einsparen. In Asien verursacht nicht nur der Transport nach Europa höhere CO2-Ausstöße, sondern oft auch die niedrigeren Umwelt- und Produktionsstandards. Ein „grüneres“ Bewusstsein kommt nicht nur bei Konsumenten an, sondern auch bei Unternehmen. So günstig wie möglich, egal wo produzieren und es dann importieren, das wird bald überholt sein. Wir nennen diesen Ansatz „Bewusstseins-Ökonomie“.

Mit Alexander Nowroth sprach Diana Dittmer

 

Quelle: ntv.de

 

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